Es hatte mich erwischt. Zum ersten Mal in meinem Leben sehnte ich mich mitten im sonnigsten September nach Weihnachten. Nach Stille und Besinnlichkeit bei Keksen und Kerzenlicht. Was war passiert? Eigentlich nichts. Wir waren nur nach Hause zurückgekommen. Wie Millionen Italiener auch. Plötzlich erinnerten sich meine total entspannten, lässigen, braun gebrutzelten Jungs (wie vermutlich 90 Prozent aller italienischen Schüler) panisch an die Bücher und Hausaufgaben, die die Lehrer ihnen vor drei Monaten aufgegeben hatten, damit sie in den langen Ferien nicht vollkommen verblöden. Um den Last-Minute-Stress noch zu erhöhen, begann die Schule bereits drei Tage früher. Das hatte irgendeine Schulkonferenz flott im Sommer beschlossen, der Hausmeister hatte einen Zettel an die Tür geklebt, fertig. Spontane Schulautonomie statt Kultusministerkonferenz. Da stand auch, dass die Schulmensa erst Mitte Oktober wieder öffnen würde. Musste neu organisiert werden.
Was noch? Meine rumänische Putzfrau erreichte ich nicht mehr in Genua, sondern in Mailand – spontaner Umzug. Der Basketballverein, meiner Jungs trainierte nicht mehr um die Ecke, sondern gegenüber vom Fußballstadion, genauer: eine halbe Autostunde durch die Rushhour – erst hin, dann zurück, zweimal die Woche. Bis auf Weiteres duschten wir kalt, weil der Klempner unseres Vertrauens offensichtlich die Rohre der halben Stadt reparieren musste – waren ja alle wieder zu Hause. Der Gatte und ich, wir kriegten uns in die Haare, weil er im Büro wichtig, wichtig das sommerliche Phlegma verscheuchen musste, während mein Schreibtisch superflexibel zu Hause stand. Um meine Laune zu heben, eilte ich zu Tonino, meinem Friseur. Klasse Idee. Der war noch schlechterer Laune, vollkommen überarbeitet und stöhnte bei meinem Anblick: „Wie siehst du denn aus?“ Strubbelige Haare, ausgedörrt von Sonne und Salz – ein Desaster. Und so machte Tonino kurzen Prozess mit der letzten Erinnerung an den Sommer.
Kein Sommerloch – ein Abgrund
Mein Erschöpfungszustand hatte einen Namen: „rientro„. Nach Hause kommen. Was die Amerikaner zärtlich „post-vacation blues“ nennen, zelebrieren die Italiener als nationales Stresssyndrom. Alljährlich Ende August bricht es aus, kracht wie ein Tsunami über Italien herein und schreckt das Volk mit Macht aus der sommerlichen Tiefenentspannung. Denn nach italienischem Kalender endet ein Jahr im Juni und beginnt im September. Dazwischen ist nichts. Zunächst hatten wir noch Abschied gefeiert, in der Schule, im Sportverein, mit Freunden und Nachbarn. Geküsst und geherzt, als ob es in diesem Leben kein Wiedersehen mehr gäbe. Dann brach der Sommer aus. Jeden Tag ein wenig mehr. Das Leben zerbröselte. Alltag, Struktur, Gewohnheiten, Pflichten, Pünktlichkeit – alles löste sich auf und rieselte durch eine gigantische Sanduhr, bis auch wir schließlich zu dem Rest von Italien auf einen der gnadenlos überfüllten Strände plumpsten. Gegenwehr zwecklos. Denn was in Deutsch- land ein Sommerloch, ist in Italien der totale Abgrund.
Zu Hause funktionierte nichts mehr wie gewohnt. Gemüsehändler und Bäcker – Rollläden runter. Der Kiosk und das Cafe, wo mir sonst ungefragt jeden Morgen Zeitung und Cappuccino rübergeschoben werden – alles dicht. Post? Müllabfuhr? Busse? Pazienza. In Deutschland hieße das Ausnahmezustand, und der gipfelt alljährlich um Ferragosto am 15. August, wenn ganz Italien definitiv und kollektiv die Kelle fallen gelassen hat. Ein Moment des Friedens. Wie Weihnachten, nur sonniger. Gut beraten ist, wer nun bereits zum Besen greift und die Reste seines normalen Lebens zusammenfegt. Denn am Horizont grummelt es bereits finster: „rientro“.
15. August – wie Weihnachten, nur sonniger
Ich konnte nicht sagen, ich hätte es nicht gewusst. Die Zeitungen waren – wie jedes Jahr Ende August – voll gestopft mit warnenden Artikeln, mit Fotos bildhübscher junger Frauen, die ihre Stirn grausam in Falten werfen, von Kopfschmerzen enerviert. Mit Statistiken, die belegen, dass jeder zehnte Italiener unter Kopfschmerzen leidet, unter Konzentrationsstörungen und Schwächegefühl, auch Übelkeit, Husten und leichtes Fieber sollen als Reaktion auf einen missglückten „rientro“ vorkommen. Von den psychischen Folgen, die eigentlich jeden betreffen, gar nicht zu reden. Es ist die Stunde der Psychologen, Soziologen, Dermatologen, Ökotrophologen und sonstigen Lebensberater. Gemeinsamer Ratschlag Nummer eins: langsam, immer mit der Ruhe. Nichts überstürzen. Bloß nicht am Wochenende zurückfahren und am Montag zur Arbeit toben. NIEMALS! Ruhe, Ruhe und Ruhe, lange Spaziergänge machen. Und Askese: um den eigenen Rhythmus wieder zu stabilisieren, sollte man sich in den ersten Tagen von Freunden und Bekannten doch lieber fernhalten. Predigen die schlau schwätzenden Experten.
Nichts überstürzen – mit Flipflops ins Büro
Aber es gibt doch so viel zu erzählen! Und so viel zu organisieren, jetzt, zu Beginn des neuen Jahres. Statt der angeratenen meditativen Maßnahmen rennt man im September aufgeschreckt herum, fällt sonnengebräunten Freunden und Supermarktverkäufern in die Arme, wünscht sich ein gutes neues Jahr und organisiert lauter unnützes Zeug. Medizinische Gutachten beispielsweise, die die körperliche Unversehrtheit nach dem Sommer bestätigen. Ohne diesen Zettel, Kosten rund 50 Euro, wird man in keinem Sportverein wieder aufgenommen. Oder Schulbücher, die hätte man natürlich auch schon vor drei Monaten in der Buchhandlung bestellen können, aber bitte, wer tut das schon, wenn gerade noch das Zeugnis verdaut werden muss? Also kommen die Bücher eben erst drei Wochen nach Schulbeginn an. Man soll schließlich nichts überstürzen. Und was geschieht mit dem schlanken, wohlgebräunten Körper des Sommers? Panik. Wird er sich binnen Kurzem in einenblassen, schlaffen Sack verwandeln? Dermatologen raten zu hyperhydratisierenden Lotionen, zarten Duschgels und Selbstbräunern. Ernährungswissenschaftler warnen: Die gut gemeinte Portion Pasta mit Muscheln kann einem aktiven Körper im Sommer nichts anhaben. Aber im Winter? Ragazi, nach acht Stunden am Computer, da sieht das bald anders aus! Also: Obst, Gemüse, Wasser. Ob das die Urlaubslaune erhält?
Das Grauen schlechthin ist natürlich der erste Arbeitstag. „Ciao, belli, schön langsam heute, va bene?“, säuselt die vertraute – und endlich zurückgekehrte! – Radiomoderatorin mit ihrer professionell gut gelaunten Stimme. Einige Tipps hat natürlich auch sie auf dem Zettel: Trost und Träume spende ein schönes Urlaubsfoto als Bildschirmschoner auf dem Bürocomputer. Beruhigend wirkten To-do-Listen, um unangenehme Jobs auf später zu verschieben. Immer locker bleiben, „und zum Eingewöhnen könntet ihr heute im Strandkleid im Büro auftauchen. Keine Highheels und engen Röcke, keine Krawatten, sondern Shorts und Flipflops. Wie ist das?“ Sie dreht „Vamos a la playa – oh ohohoh oh!“ hoch und giggelt verführerisch: „Also ich sitze heute im Studio barfuß. Wunderbar!“